„Niemand glaubt, dass sein Leben nur so irgendwie ganz okay verlaufen würde. Wir glauben alle, dass aus uns etwas Besonderes wird. Und von dem Tag an, an dem wir uns dazu entschieden haben, Chirurgen zu werden, sind wir voll hoher Erwartungen. Wir erwarten von uns, dass wir neue Wege beschreiten, dass wir Menschen helfen, dass wir etwas bewegen. Wir haben hohe Erwartungen an den Menschen, der wir sein möchten, wohin wir gehen werden. Und irgendwann kommen wir an.“
So das Intro-Zitat einer Folge der Drama-Serie Grey's Anatomy. Gesprochen wird es von Dr. Meredith Grey. Sie ist junge Assistenzärztin am Seattle Grace Krankenhaus und eine der Hauptpersonen der Serie. Ihr Charakter, aber auch schon dieses Zitat alleine, löst, wie ich finde, Ambivalenzen aus.
Vielleicht einen gewissen Widerstand. Denn: Wir sollen doch bescheiden sein. Wir glauben alle, dass aus uns etwas Besonderes wird. Also nein, diesen etwas hochmütigen Gedanken weise ich weit von mir. Ich will doch nichts Besonders werden, ich weiß doch, dass jeder Mensch was Besonderes ist, und dass keinerlei Leistung mich jetzt irgendwie noch besonderer als andere macht.
Gleichzeitig ist es natürlich gut, zielstrebig zu sein. Wir erwarten von uns, dass wir neue Wege beschreiten, dass wir Menschen helfen, dass wir etwas bewegen. Wir haben hohe Erwartungen an den Menschen, der wir sein möchten, wohin wir gehen werden. Es ist doch irgendwie verlorenes Potential, wenn ich und andere mit einer „Komm' ich heut nicht, komm' ich morgen“- Einstellung durchs Leben gehen. Hohe Erwartungen an sich selbst zu haben, sich anzustrengen ist wichtig und richtig.
Und irgendwann kommen wir an. Das löst Sehnsucht in mir aus. Ich möchte einmal ankommen, erreicht haben, was ich erreichen wollte, und dann einfach genießen. Meredith Grey sagt diesen Satz aber mit einer großen Portion Selbstgewissheit. Das finde ich irritierend und etwas vermessen: Alles in meinem Leben kann ich mir eben nicht selbst garantieren.
Das zu Anfang gennannte Zitat war nun aber das Intro-Zitat einer Folge. Und Grey's Anatomy ist eine Drama-Serie. Dreht sich um junge Chirurg*innen, deren (Liebes-)Leben und deren Arbeit im Krankenhaus. Da passiert unendlich viel – sonst wäre die Serie ja auch nicht so erfolgreich – und immer wieder werde ich beim Schauen zu Tränen gerührt.
Auch in dieser Folge ist sehr viel passiert, und die erst so selbstsichere und selbstgewisse Meredith stimmt am Ende nochmal ganz andere Töne an, dort heißt es:
„Wir denken alle, dass wir mal was ganz Tolles werden. Und wir fühlen uns ein klein wenig wie beraubt, wenn sich unsere Erwartungen nicht erfüllen. Aber manchmal sind wir unseren Erwartungen weit voraus. Das, was man erwartet, verblasst manchmal vollkommen neben dem, was man nicht erwartet. Man muss sich schon wundern, warum wir an unseren Erwartungen festhalten. Das Erwartete ist das, was uns in der Balance hält. Aufrecht, ruhig, was wir erwarten, ist nur der Anfang. Das, was wir nicht erwarten, ist das, was unser Leben verändert.“
Ich mag dieses Outro-Zitat unheimlich gerne. Es ist so herrlich unverblümt ehrlich. Wir fühlen uns ein klein wenig wie beraubt, wenn sich unsere Erwartungen nicht erfüllen. Ja, es ist einfach nicht schön zu erfahren, dass ich nicht ganz selbstgewiss durch das Leben gehen kann.
Und es spricht für mich in einer ganz positiven Art von Bescheidenheit und von Demut. Das Erwartete ist das, was uns in der Balance hält. Aufrecht, ruhig, was wir erwarten, ist nur der Anfang. Hier wird meinen Erwartungen ein guter Platz zugemessen: Sie sind der Anfang, und ich brauche sie, ich muss ja ruhig und aufrecht sein; trotzdem ist dann noch Raum für etwas und jemand anderen da. Das, was wir nicht erwarten, ist das, was unser Leben verändert. Was mich wachsen und reifen lässt, mir Charaktertiefe verleiht, ich kann es mir nicht selbst geben, nicht einmal selbst voraussehen.
Ich schaffe mich nicht selbst – weiß nicht, ob ich das nun sehr ernüchternd oder entlastend finde. Mit der Logik einer Drama-Serie kann ich aber sagen: Es ist so jedenfalls sehr spannend und aufregend!
Ihre Judith Köhler